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Tim Shaw – Marathon im Hinterhof

14. April 2020


Tag 25 der kompletten Ausgangssperre hier in Domodossola. Und wieder ein Tag wie jeder andere. Zumindest wie jeder andere der letzten drei Wochen. Und wohl auch wie jeder andere der nächsten drei. Mindestens. Wie lange kann ein Mensch, kann eine Gesellschaft das aushalten? Wie lange halte ich das noch aus? Die Berge keinen Steinwurf entfernt und doch unerreichbar. Drei Straßenzüge müsste ich überqueren, drei Straßenzüge voller Denunzianten und Polizeistreifen. Unmöglich.

Doch man soll ja optimistisch bleiben. Also erst einmal ein gutes Frühstück auf dem Südbalkon. Gott, ich kann mich wirklich nicht beschweren! Wie muss es da den Mailänder Familien in ihren kleinen Großstadtwohnungen gehen? Den vielen, die schon vor Corona in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten und nun auf Lebensmittelpakete der Gemeinde angewiesen sind?

Zum Kaffee heute lieber keine Regionalnachrichten. Die bringen eh jeden Tag dasselbe. Wieder einen Jogger in flagranti erwischt. Einen Radfahrer dank der Mithilfe der Bevölkerung gebüßt. Im Dorf nebenan wurde ein unbekanntes Gesicht gemeldet. Ob das wohl ein Städter ist, der verbotenerweise sein Ferienhaus aufgesucht hat? Die Carabinieri werden das selbstverständlich sofort überprüfen.

Ein Virus geht um. Corona, das ist ja eigentlich schon schlimm genug. Doch noch viel schlimmer ist das grassierende Denunziantentum. Unüberprüft von den Medien übernommen, lokal und überregional. Es wird zur Jagd auf die Pestverbreiter geblasen.

Um als Wanderleiter fit zu bleiben, steht daher nun eine Stunde Hometrainer auf dem Programm. Sport im Freien ist schon lange untersagt, und selbst ein Spaziergang darf nur bis maximal zweihundert Meter um die Wohnung herum unternommen werden. Ein Passierschein ist bei einer allfälligen Kontrolle vorzuweisen. Und Diskussionen mit den Ordnungskräften sind so oder so obligatorisch. Also lieber zuhause strampeln.

Die Fitness möchte ich mir erhalten, auch wenn ich sie in diesem Jahr vermutlich nur für mich selbst gebrauchen werde. Es ist schwer vorstellbar, dass in dieser Saison noch Führungen stattfinden können. Die Distanzregeln werden sicher noch lange bleiben, und in den engen Berghütten sind diese unmöglich zu befolgen. Auch während der Tour wäre das schwierig, ab und zu muss man seinen Gästen ja schon einmal eine Hand reichen dürfen. Bleibt zu hoffen, dass die Leute eine umso größere Lust auf eine Bergtour verspüren, wenn sich alles wieder normalisiert hat. Und dass die Natur dann in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert genießen wird.

Nach dem Sport wieder eine Runde putzen, die Staubkörner haben es derzeit noch schwerer als die Menschen. Würde das Virus per Hausstaub übertragen, hätten wir den Notstand bereits längst hinter uns.

Als ich dann kurz den Müll wegbringe, läuft mir die Nachbarin aus dem ersten Stock über den Weg. Als leidenschaftliche Joggerin dreht sie einsam im Hinterhof ihre Runden. Dreißig Meter hin, dreißig Meter zurück. Wie lange sie wohl für einen Marathon brauchen würde? Über siebenhundert Runden, rechne ich aus. Der Wahnsinn hat Methode.

Das Virus stellt einfach alles auf den Kopf. Und sechzig Millionen Italiener und jene, die sich dazu entschieden haben, in diesem schönen Land zu leben, unter Quarantäne. Also wieder keine alten Wege in den zerklüfteten und vergessenen Bergwelten des Ossolas aufstöbern, sondern nur die Katzen der Nachbarschaft bei ihren täglichen Streifzügen in unbegrenzter Freiheit beobachten. Samtpföter müsste man sein!

Am Abend kommt eine Pizza auf den Tisch, denn auch während der größten Krise bleibt das Nationalgericht unverzichtbar. Zahlreiche Restaurants haben nicht die Flinte ins Korn geworfen, sondern bieten einen kostenlosen Lieferservice an. Das reicht vom Eis über die erwähnte Pizza bis hin zum Mehrgangmenü. Findig, doch nur so bleibt man am Leben. Die vom Staat versprochene Hilfe reicht dafür bei weitem nicht. Ganze sechshundert Euro sind vorgesehen, und bis zur Auszahlung wird noch viel Wasser den Tiber hinunter fließen.

Was wohl Tag Nummer 26 der kompletten Ausgangssperre zu bieten hat?

Tim Shaw, Domodossola, Italien

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