09. April 2020
Der Maulbeerbaum ist vorsichtiger als der Weichselbaum, der voll im Laub steht und schon vor einer Woche verblühte. Der Maulbeerbaum lässt nur einzelne Knospen aufgehen, kleine Blättchen schauen hervor, die anderen Knospen sind zwar einen Spalt weit geöffnet, man denkt, jetzt explodieren sie gleich, aber so halb offen verharren sie seit etlichen Tagen. Trotz Temperaturen zwischen fünfzehn und zwanzig Grad. Der Maulbeerbaum traut dem Frühling nicht. Und doch: Noch vor dem Weichselbaum wird er Früchte tragen.
Mein Freund und Nachbar H. liegt im Spital. Nicht wegen Covid-19, sondern weil seine Chemotherapie auf die Lunge geht und ihm den Atem raubt. H. ist hochgradig gefährdet, er ist aber auch Experte, hat seiner Lebtag in medizinischen Labors gearbeitet und Krankheiten erforscht. Er weiß genauer als ich, was ihn töten könnte. In den hellen Morgenstunden dieses Ausnahmezustands sitzt unsere hauseigene Risikogruppe jeweils in der Sonne an der ruhigen Straße und trinkt Kaffee oder Tee. Einzelne rauchen. Manchmal empfangen sie Gäste. Ich liege um diese Zeit noch im Bett, das Fenster ist geöffnet, gelegentlich rieche ich Marihuana, stets höre ich ihre Stimmen, denn wegen der Abstände müssen sie lauter reden als sonst. Aber ich möchte gerne wieder vom schallenden Gelächter des Freundes H. geweckt werden.
Ist es die dritte oder vierte Woche, in der wir zu Hause bleiben? Am Anfang habe ich die Veränderung gar nicht recht wahrgenommen. Ohnehin arbeite ich seit Jahren daheim. In den vergangenen Monaten musste ich unter größtem Termindruck ein Buch zu Ende schreiben. Am 16. März, dem Tag des Lockdowns, waren wir an den Korrekturen. Ich arbeitete in gewohnter Weise weiter. Am 31. März ging das Buch in den Druck. Auf Mai haben wir einige Veranstaltungen geplant, die vermutlich nicht stattfinden werden.
Als ich nach der großen Arbeit wieder zu mir kam, war es wegen einem schweren Husten. Ein ekelhafter Husten, ekelhaftes Halsweh und leichtes Fieber. Seither lebe ich in Selbstisolation. So gut es eben geht, denn ab und zu stehle ich mich hinaus. Eine Freundin hat mir eine Maske genäht. Die Symptome sind fast, aber noch nicht ganz verschwunden.
Ich lese einen landwirtschaftlichen Aufsatz über das Einfangen von Meisen. Auf meinem Balkon verkehren Blaumeisen und Kohlmeisen. So der Form halber oder wohl eher aus Gewohnheit suchen sie den Weichselbaum und den Maulbeerbaum nach Insekten ab. Tatsächlich kommen sie wegen des Vogelfutters, das vom Winter her übrigblieb. Der Aufsatz aus dem Jahr 1858 versucht, die Bauernschaft zu überreden, die Meisen als nützliche Tiere anzusehen. Zwar soll man sie mit der Methode der Vogelfänger in die Obstgärten locken, wo sie die Schädlinge fressen. Aber man dürfe sie dann nicht einfangen und verzehren. Um Meisen anzulocken, hält der Vogelfänger ein einzelnes Tier im Käfig. Er stellt diesen in den Obstgarten und lässt die Meise nach Artgenossen rufen.
Sobald der Ausnahmezustand vorbei ist, fahre ich mit dem Weichselbaum aufs Land und pflanze ihn dort in eine Wiese. Der Maulbeerbaum wird auf dem Balkon bleiben. Alles wie geplant.
Stefan Keller, Zürich, Schweiz
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