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Ruedi Widmer – Der klare blaue Himmel

04. April 2020

Das Verrückte ist ja der klare blaue Himmel und die Morgensonne, die durchs Fenster grüßt, bis in die hintersten Ritzen im Schlafzimmer, und dort den Staub sichtbar macht. Und trotzdem sieht man nicht mal bei dieser totalen Ausleuchtung das Virus, das die Welt verändert. Ich schrieb vor einigen Wochen auf Facebook, wir befänden uns im größten Ereignis der Menschheitsgeschichte. Klar, solche breitspurigen Einträge haben etwas Lächerliches, und ich wurde nur verspottet. Trotzdem ist der Satz richtig. Corona übertrifft als Ereignis alle Kriege und Katastrophen, die je auf der Welt stattgefunden haben. Es gibt heute dreimal so viele Menschen wie in der Zeit der Weltkriege. Das Virus ist überall, jeder Mensch auf jedem Landstrich der Erde ist von diesem Einzelereignis direkt betroffen. Ich rede (noch) nicht von der Anzahl Opfer, sondern von der immensen Umwälzenergie des Coronavirus auf das Leben jedes Einzelnen. Das Wort »Umwälzenergie« stammt aus der Welt der Energieerzeugung und Pumpen, aber ich verwende es nun einfach das erste Mal in diesem Kontext. Die Coronazeit ist ja auch eine Zeit, in der man vieles neu erfinden muss, und dann darf ich ein solches Wort, das bisher ein unauffälliges Leben in Fachpublikationen geführt hat, durchaus einmal an die Morgensonne zerren. Der Bundesrat hat derzeit viel zu sagen, und ich befolge auch seine Anweisungen, aber in den Ritzen zwischen den noch nie so groß gewesenen Umwälzenergien von Frau Sommaruga, Herrn Berset, Herrn Maurer und vor allem Schattenbundesrat Koch findet man immer noch, wie Staub aus einer früheren Zeit, einige bürgerliche Freiheiten, die solcherlei zulassen, ohne gegen die Notstandsgesetze zu verstoßen.

Mein Alltag ist sehr anstrengend. Die Kinder sind mit ihrem Schulstoff nun immer zu Hause, meine Frau und ich arbeiten auch daheim, und so ist man plötzlich alles zusammen, was bis vor drei Wochen auf mehrere Personen verteilt war: die Eltern, die Lehrerin und der Lehrer, die Großeltern, die Spielkameraden, der IT-Sachverständige, die Sporttrainer und immer auch wieder familieninterner Daniel Koch, wenn’s ums Händewaschen geht.

Heute bin ich mit dem Velo Lebensmittel besorgen gegangen, in die Ansteckungskette mit dem orangen M im Einkaufszentrum. Dort traf ich auf die Nachbarinnen und Nachbarn und die Eltern der Schulkameraden der Kinder, führte im Sicherheitsabstand Zwischenstandsgespräche, überlegte mir, was ich mit welchen Händen nun berührt habe (ich war mir noch nie so meiner Hände bewusst), bezahlte alles durch die Speichelwolkenschutzscheibe an der Kasse und fuhr so schnell wie möglich wieder heim. Dann saugten wir zu Hause mal bis in die Ritzen, denn man macht so viel mehr Staub, wenn man immer drin ist. Man steht auch die ganze Zeit in der Küche, bei drei Mahlzeiten pro Tag.

Ich bewundere die vielen Leute, die in dieser vom klaren blauen Himmel kaschierten schrecklichen Zeit noch viel, viel mehr arbeiten als wir, die Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger, und die Bundesrätinnen und Bundesräte. Ja, ich bin richtig gerührt, wenn Führungsleute mal wirklich Verantwortung übernehmen. In der Wirtschaft ist das unüblich, und der Ruf nach dem Staat kommt so sicher wie der Sicherheitsmann in der Migros, wenn man zu lange stehenbleibt.

Jeden Tag um 18 Uhr singen wir ein Lied in die Wohnstraße hinaus, und die Nachbarschaft steht an den Fenstern oder verteilt sich im Sicherheitsabstand. Meine Frau hatte die Initiative ergriffen. Es ist schon das neunzehnte heute, sie spielt Gitarre, ich habe auch schon ein altes Casio-Örgeli verwendet. Es ist für alle in unserer Siedlung ein wichtiges Ritual geworden, man wechselt einige Worte oder ist auch nur froh, sich zu sehen, und nach zehn Minuten ist es wieder vorbei. Die Welt ist klein geworden, und heute sangen wir »E chlini Stadt« von Dieter Wiesmann. Gestern gar »Ouragan« von Prinzessin Stefanie, auch schon Mani Matter, Bob Dylan, Toto Cutugno, Beatles. Der klare blaue Himmel ist ja das Verrückte. Einmal flog beim Singen – Sensation – ein Flugzeug durch, eine »Edelweiss«, ein Repatriierungsflug.

Ruedi Widmer, Winterthur, Schweiz

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