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Peter Stäuber – Auf dem Rad

02. April 2020

Wie oft dachte ich, als ich mich im dichten Morgenverkehr durch den Stau schlängelte, dass Radfahren in London mehr Spaß machen würde, wenn es keine Autos gäbe. Eine leergefegte Metropole, so wie im Horrorfilm 28 Days Later, aber wenn möglich ohne Zombies. Als ich mich an diesem Morgen auf den Sattel schwinge und von meinem Wohnquartier Harrow in Richtung Stadtzentrum strample – einmal am Tag darf man raus –, bestätigt sich, dass Velofahren inmitten einer Epidemie tatsächlich komfortabler ist. Ein schwacher Trost. Es greift eine virenbedingte und sehr vernünftige Misanthropie um sich. Beim Anblick eines arglosen Spaziergängers im Park, den es großräumig zu umfahren gilt, rücke ich sofort meine Gesichtsmaske zurecht. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich den Atem anhalte, wenn jemand keinen Sicherheitsabstand hält. Der Gesichtsschutz ist unbequem, und als es mich während der Fahrt an der Nase zu jucken beginnt, versuche ich mich durch die Maske hindurch zu kratzen, sicherheitshalber mit dem Unterarm. Das finde ich dann gleich völlig übertrieben – aber der Blick in die Zeitungen lässt jede zusätzliche Vorsichtsmaßnahme gerechtfertigt erscheinen. Vor allem die Nachrichten aus den Spitälern sind beunruhigend. Man liest von Krankenpflegern und Ärztinnen, die Abfallsäcke über die Schuhe gestülpt und sich Schürzen um den Kopf gebunden haben, weil es an der nötigen Schutzausrüstung fehlt. Während es Deutschland schafft, täglich zehntausende Menschen auf Covid-19 zu testen, haben die britischen Behörden nicht einmal genügend Tests fürs Krankenpersonal. Ein Viertel der Angestellten des Gesundheitsdiensts NHS befindet sich in der Selbstisolation und fehlt in den Krankenhäusern. Seit Tagen wächst in der Bevölkerung die Frustration über die langsame Reaktion der Regierung, über ihre Unfähigkeit, die nötigen Maßnahmen umzusetzen.

Wir sorgen uns nicht nur um unsere älteren Verwandten und Freunde. Meine Frau ist schwanger, und wir fragen uns, wie wir die Geburt unter diesen Umständen meistern können. Gestern hat das Geburtshaus angerufen und gesagt, dass sie vorübergehend schließen werden – wir müssen also, wenn es Ende Mai soweit ist, ins allgemeine Krankenhaus, wo auch die Corona-Patientinnen und -Patienten behandelt werden. Wird sich die Situation bis dahin entspannt haben, und wird genügend Personal da sein? Jedes Mal, wenn meine Frau die Nachrichten liest, legt sich ihre Stirn in tiefe Falten.

Meine Radtour führt mich bis Wembley. Auf dem Parkplatz von Ikea sind Zelte aufgebaut worden, in denen sich NHS-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf Covid-19 testen lassen sollen. Noch scheint die Anlage nicht in Betrieb zu sein. Ich mache mich auf den Rückweg. Das Stadion steht verlassen, aber die Leuchtreklamen blinken noch immer. »Thank you NHS« steht auf einer.

Die neu gewonnene Wertschätzung für Pflegerinnen, Ärzte und anderes Gesundheitspersonal, aber auch gegenüber den Angestellten des ÖV und der Müllabfuhr, ist einer der wenigen Lichtblicke in diesen Wochen. An diesem Abend öffnen sich Punkt zwanzig Uhr die Haustüren in unserer Straße, man winkt seinen Nachbarn zu, dann beginnt ein lauter Applaus für den NHS, unterstützt durch Trommeln und Pfannen. Der Lärm ist lauter und dauert länger als letzte Woche. Danach bleiben die Leute etwas unentschlossen stehen, winken sich nochmal zu. War’s das schon? Ja. Zögerlich zieht man sich zurück in die Selbstisolierung.

Peter Stäuber, London, Großbritannien

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