20. März 2020
Frühlings-Tagundnachtgleiche. Es scheinen doppelt so viele Amseln zu singen, wenn der Fluglärm fehlt, und der Himmel ist zum ersten Mal seit dem Eyafjallajökull-Ausbruch blau ohne Kondensstreifen. Auf der Straße bewegen sich sogar die wenigen Leute, die noch unterwegs sind, langsamer. Ein bisschen davon in den Normalitätsalltag zu retten, wäre schön. Nur weiß ich, natürlich: Für viele ist’s grad alles andere als stressfrei. Selber habe ich ein paar Ausfälle: ein kleiner Lehrauftrag, ein paar Vorträge, wertlose Trenitalia-Fahrkarten – verkraftbar.
In der Familie wird es eng, wenn alle in der kleinen Wohnung zu arbeiten versuchen. Jetzt schon. Ich versuche, meinen Schüler*innen mittels Klassenzimmersoftware Aufträge zu erteilen. Es funktioniert schlecht, die Server sind überlastet. Es kostet Zeit und Nerven.
Vor dreißig Jahren arbeitete ich nach Schulabschluss als Systemoperator bei einer Maschinenfabrik. Solche Stellen fand man damals ohne Ausbildung. Ich lernte viel über die Arbeitswelt, zum ersten Mal. In den Büros lief Privatradio: Wunschkonzerte, oft von Büroteams zusammengestellt, die sich »aufgestellt« nannten, was eigenartig mit der Alltagstristesse in unseren Büros kontrastierte. In einem Büro hing ein Plakat des Zeichners Mordillo an der Wand: Der Großcomputer ist kaputt und in den Großraumbüros freuen sich alle, spielen Fußball und feiern Feste, weil sie nicht arbeiten können. Als bei uns einmal das System ausfiel, feierte niemand: Alle waren gestresst.
So geht’s mir jetzt, ich bin gestresst.
Den Schüler*innen schenke ich über unsere Onlineplattform Brechts Gedicht »Radwechsel«:
Ich sitze am Straßenrand Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld?
Sonst treibt mich die Frage um, wie sich aus der akuten Krise Lehren für die viel größere Krise ziehen lassen: Die Coronakrise zeigt, dass entschlossenes Handeln möglich ist, wenn eine Krise als Krise wahrgenommen wird; der Kampf gegen die Klimakrise scheitert vor allem daran, dass die globale Erwärmung zwar nur noch von wenigen geleugnet wird, dass aber die meisten noch meinen, das sei ein normales Problem, lösbar mit normalen Maßnahmen: da ein bisschen Lenkungsabgaben, dort ein bisschen Innovationsförderung, hier einige Appelle – nur um Himmels Willen keine Verbote, nur den Lebensstil nicht in Frage stellen!
Es fehlt an gesellschaftspolitischer Phantasie – im Dystopischen, um sich vorzustellen, wie schlimm es in einer heißen Welt werden könnte (vielerorts schon ist); im Utopischen, um sich eine Welt vorzustellen, die anders ist, ohne schlechter zu sein.
Die Coronakrise erfordert akutes Handeln ohne viele Rücksichten bei lückenhaftem Wissen. Die Klimakrise wäre bei viel besserem Wissensstand viel schmerzfreier zu lösen: Ihre Lösung erfordert Transformation, nicht Lockdown. Allerdings dürfen die Lösungen der Klimakrise nicht wie bei der Pandemie vorübergehend sein: Es braucht einen Strukturwandel. Dagegen sind die Widerstände enorm.
»Die globalen Umweltveränderungen bringen zeitliche Größenordnungen durcheinander«, habe ich einmal geschrieben. Das gilt auch für die Coronakrise: Die Welt ist in so kurzer Zeit eine andere geworden, wie es niemand für möglich gehalten hätte. Und ich habe, damals, weiter geschrieben: »Das ist beängstigend – macht aber vielleicht auch ein bisschen frei.«
Denn es macht Neues denkbar. Man muss sich die Freiheit, es zu denken, nur nehmen.
PS: Mein Tipp für lange Corona-Abende: 32x Beethoven. Podcast mit dem großartigen Igor Levit, Bayrischer Rundfunk.
Marcel Hänggi, Zürich, Schweiz
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