24. März 2020 - March 24th 2020
English version below
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An einem normalen Arbeitstag als Rechtsmedizinerin komme ich kaum einen Augenblick zur Ruhe. Zu viele Vorlesungen, Besprechungen mit Studentinnen und Kollegen aus dem Labor hier an der Mailänder Uni, und dann sind da ja noch die Leichen, die ich obduziere, um der Kriminalpolizei bei der Aufklärung von Verbrechen zu helfen. Es ist ein permanentes Rauschen, physisch und mental.
Heute ist aber kein normaler Arbeitstag. Einen solchen gibt es schon seit Ende Februar nicht mehr. Alles, auch unsere Arbeit, ist zum Stillstand gekommen. Autopsien werden nur noch in absoluten Ausnahmefällen durchgeführt, wir können unser Labor nicht mehr betreten. Selbst die Aufnahmestation der Poliklinik, in der Opfer von Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt untersucht werden, ist geschlossen worden – zu viele Patientinnen auf zu engem Raum, das Risiko ist zu groß. Nun, misshandelte Kinder und Frauen würden jetzt wohl ohnehin nicht kommen. Sie sind zu Hause eingeschlossen mit ihren Peinigern, so wie die Obdachlosen jetzt ausgeschlossen sind von den Orten, an denen sie normalerweise Zuflucht finden; in diesen Tagen verkriechen sie sich irgendwo in den Straßen, sterben dort.
Ich verbringe die Tage zu Hause am Computer; die gelegentlichen Skype-Verabredungen bringen ein bisschen Abwechslung, ansonsten bin von der Stille des Hauses umgeben, im Hintergrund nur das Scharren der Hundepfoten auf dem Fußboden und der Klang der Mandoline, auf der mein Lebensgefährte Bach spielt. Von meinem Fenster aus sehe ich die leere Straße, Mailand, das arbeitende Herz Italiens, jetzt das surreale Szenario einer etwa einen Kilometer langen Schlange von Menschen, die – für mein etwas chaotisches und manchmal auch undiszipliniertes Land erst recht ein komplett ungewohnter Anblick – stoisch vor dem Supermarkt anstehen. Fassungslos und ungläubig schaue ich in ihre stummen Gesichter: Manche starren in ihr Handy, die meisten haben den Blick auf den Boden gerichtet, halten sich akribisch an die drei Meter Abstand zwischen einander.
Der Tag zieht schnell vorüber, während ich Kurse und Online-Prüfungen vorbereite, Berichte zu Ende schreibe und ein paar wissenschaftliche Artikel überfliege. Aber in meinem Hinterkopf ist es die ganze Zeit präsent. Der ganze Tag, jeder Tag, ist im Grunde ein unbarmherziger Countdown bis zu dem einen Moment. Es ist wie das Warten auf ein Testergebnis, vor dem man sich so sehr fürchtet, dass es Übelkeit in einem aufsteigen lässt. Dann ist es 18 Uhr – es ist soweit. Das ist der Moment, an dem meine Taubheit, die Benommenheit, die mit dem Eingesperrtsein einhergeht, durchbrochen wird und mich die Realität überwältigt. Es ist Zeit für das tägliche Kriegsbulletin, das der Chef der Zivilschutzbehörde im staatlichen Fernsehen verkündet. Fünfhundert, sechshundert, achthundert Tote, Tag für Tag; tausende weitere Menschen in den Krankenhäusern. Die Bilder von Straßenzügen voller Särgen; Intensivmediziner, die nicht mehr wissen, wohin mit den Patienten; Ärztinnen, die weinen vor Verzweiflung. Das kann alles nicht wahr sein – aber es ist wahr.
Und ich kann nicht anders als zu denken, wie glücklich und zugleich verletzlich wir sind und wie sehr wir es als gegeben nehmen, dass wir in unserem gewohnten Leben einen solchen Abstand zwischen uns und die Krankheit, das Risiko, den Tod gebracht haben. Die Qual und die Verzweiflung der »anderen«, die ähnliche oder schlimmere Tragödien erlebt oder nicht überlebt haben, Epidemien, Hunger, Krieg oder auch die gefährlichen, allzu oft Tod bringenden Migrationszüge unserer Zeit – jetzt treffen sie »uns«.
Meine einzige Hoffnung ist, dass all das bald vorbei ist und dass diese Tragödie uns stärkt und uns die Augen öffnet.
Die Mailänder Forensikprofessorin Cristina Cattaneo hat es sich zur Aufgabe gemacht, den ertrunkenen Bootsflüchtlingen ihre Identität zurückzugeben. Ihre Arbeit hat sie im Buch »Namen statt Nummern« dokumentiert, das aktuell beim Rotpunktverlag erschienen ist: https://rotpunktverlag.ch/buecher/namen-statt-nummern
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During my normal working day I rarely sit down: too many hours of teaching, meetings with students and colleagues from the lab, bodies and bones from criminal cases to figure out. A constant physical and mental buzz.
Since the end of February all this has come to a halt. Autopsies have been drastically reduced to the essential and we cannot access our labs. Even the rape and domestic violence centre in the Policlinico has closed down – too many patients, too great a risk. But abused children and wives wouldn’t come anyway – they are unfortunately locked in with their persecutors, just like the homeless are locked out of safety, silently hiding, sometimes dying, in the streets.
I am most of the days at home, at my computer, distracted by the occasional skype meeting, immersed in the silence of my house – in the background, the noise of the nails of my dogs on the floorboards and the notes of Bach from my partner’s mandolin. From my window I can see the empty streets of Milano, the working heart of Italy, the surreal scenario (and particularly unusual for my rumorous and sometimes undisciplined country) of a 1-km queue in front of the supermarket. I am stunned and incredulous at the mute faces of the people in line: some look at their phone, most are just facing the ground, rigorously respecting the three meter distance from one another.
The day goes by quickly however while preparing lectures and exams online, finishing reports and catching up on research articles. But in the back of my mind it is always there. The entire day is almost a relentless countdown towards that crucial moment. It is like waiting for the results of a test you are petrified of, and the nausea rises until the clock hits 6 PM when the fear and the anguish become unbearable– the time is here, the hour has come. This is the moment where my state of numbness and stupor created by my imprisonment is broken, and the real world overwhelms me. It is the moment of the daily war bulletin of the Commissioner of the Civil Protection, on national television, telling us what happened during the day. Five hundred, six hundred, eight hundred dead, day after day after day; thousands more hospitalized. Images of coffins packing the streets, intensive care units not knowing where to put the patients anymore, anaesthesiologists crying out of desperation. This can’t be real – but it is.
And I cannot help thinking of how lucky yet fragile we are, and how we take for granted our usual distance with respect to illness, risk, death. The anguish and desperation of »others« who have lived and died through similar or worse tragedies, be they epidemics, famine, war and even the recent deadly migrations, is now hitting »us«.
My only hope is that this will be over soon, and that this tragedy will have made us more aware and much stronger.
Cristina Cattaneo, Milano, Italy
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