top of page
Suche
  • AutorenbildRotpunktverlag

Beatrice Schmid – Inédit

11. April 2020


Die Osterglocken stehen in voller Blüte. Diese wunderbare Ruhe, die über der Stadt liegt, geziert vom Zwitschern der Vögel. Den Stapel Korrekturen habe ich vorerst auf die Seite gelegt. Ich habe Ferien.

Sie sollen vorsichtshalber alle ihre Schulsachen nach Hause mitnehmen, wir würden uns eventuell erst nach den Osterferien wieder sehen. »Auch Die Physiker?« – »Ja, auch Die Physiker. Il s’agit d’une situation inédite, etwas noch nie dagewesenes, etwas ganz Neues.« Das war am 12. März, der eine Ewigkeit zurückzuliegen scheint. Es lag in der Luft, dass der Beschluss, die Schulen zu schließen, am nächsten Tag verkündet werde. Es war einer der ersten Frühlingstage, die seither fast ununterbrochen angehalten haben und vergessen lassen, dass der stahlblaue Himmel nicht nur dem ausbleibenden Kerosin zu verdanken ist. Wir sangen noch zusammen »Veronika der Lenz ist da!« und wünschten uns Gesundheit, eine geradezu wieder modern gewordene Verabschiedungsformel. Keine Floskel, alle meinten es ernst.

Täglich saß ich im Wohnzimmer, und die Schülerinnen und Schüler erschienen nacheinander in Briefmarkenformat schön aufgereiht an der oberen Leiste meines Computerbildschirms. Die modernen Briefmarken bezahlen die Beförderung einer Information an die zeitgenössische Post, die man sich aussuchen kann, Zoom, Whatsapp, Skype, Slack, Discord, Jitsi Meet und wie sie alle heißen. Diese registrieren fleißig, wer mit wem wie lange zu welchem Thema korrespondiert. Und wir senden und erhalten zeitgleich höchst intime Post, indem wir direkten Einblick in unser privates Zuhause geben. Natürlich ließen sich einige virtuell an einem Sandstrand sehen – so erkannte ich bei zwei verschiedenen Schülerinnen, wie aus dem gleichen Winkel dieselben Palmen synchron wehten, oder ein anderer katapultierte sich, dem Deutschunterricht entsprechend, an den Berliner Hauptbahnhof. Einige schwarze Balken glichen einer Streikbewegung, die von den technisch Benachteiligten, von jenen mit dem politisch ausgeprägtesten Bewusstsein kam oder von jenen, die schlicht schwänzten. Ich habe mich vor eine weiße Wand gesetzt. Die meisten schienen sich längst daran gewöhnt zu haben, dass sich ihre privaten Zimmer, Wohnzimmer oder Küchen zu einem virtuellen Schulhaus zusammenfügten. Bei einem kam immer wieder sein Bruder – wahrscheinlich – ins Zimmer, bei einer andern schnurrte die Katze auf dem Schoß, und ein dritter aß ungeniert sein Mittagessen – und erschien der lauten Geräusche wegen, die ihn als »Sprecher« identifizierten, stets im Vordergrund. Als Animatorin hätte ich sie alle auf einen Schlag stumm schalten können – der gelegentliche Traum eines Lehrers. Das tat ich aber nicht, denn der Klick aufs Mikrofon vor und nach dem Sprechen bedienten fast alle inzwischen so routiniert wie unsere ParlamentarierInnen. Wir diskutierten darüber, wie man die Formulierung »Gefangen, aber frei« von Dürrenmatts Physikern verstehen kann, und verglichen sie mit unserer Situation. Einer meinte, er fühle sich frei, weil er endlich Zeit habe. Ist er nun in den Ferien noch freier?

Inédit, dieses Wort zirkulierte in den letzten zwölf Monaten schon in zwei andern Situationen: beim Frauenstreik und bei den Klimastreiks. Es ist wohl seit langem die erste Generation, die mit dem klaren Bewusstsein groß wird, dass sich die Verhältnisse in rasendem Tempo verändern. Wir suchen alle nach Orientierung. Wann wird alles endlich wieder normal, fragen viele. Normal, dass von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit rund eine Million vom Aussterben bedroht ist? Normal, dass der Amazonas in Rekordzeiten abgeholzt wird und wochenlang brennt? Normal, dass hauptsächlich Frauen die Pflegearbeit entweder gratis oder schlecht bezahlt verrichten? Normal, dass jede dritte Frau Opfer von Gewalt ist? Normal, dass Sparmaßnahmen durchgepeitscht werden? Normal, dass der Staat mit Milliarden Großkonzerne rettet, während deren Steuerbeteiligung immer weiter gesenkt wird? Schön wäre, wenn die Krönung von Corona der Beginn eines wirklichen Paradigmenwechsels wäre in der Art, wie die Menschen auf dieser Erde leben. Denn der Paradigmenwechsel, dass die Erde auf die Menschen reagiert, hat schon lange begonnen – und er ist inédit.

Beatrice Schmid, Lausanne, Schweiz

175 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page