07. April 2020
Ein Tag, der, wie jeder andere, um 6 Uhr beginnt, der aber keinem anderen gleicht. Mit gemischten Gefühlen mache ich mich bereit, um das Haus zu verlassen. Ich arbeite in der orthopädischen Poliklinik. Was erwartet mich heute dort? Schon vor zwei Wochen hieß es, es dürften nur dringende Fälle und Notfälle behandelt werden. Andere Patienten werden nicht eingeplant, aus Sicherheits- und Platzgründen. Wir sollen Kapazitäten haben, um reagieren zu können und, wenn nötig, die Kolleginnen und Kollegen auf anderen Abteilungen bei der Behandlung von Corona-Patienten zu unterstützen.
Nach fast einer Woche zu Hause kann sich viel verändert haben. Obwohl ich versuche, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, verfolgen mich die Bilder und Berichte über die momentane Situation. Ausnahmezustand? Was heißt das eigentlich? Es ist keine Naturkatastrophe, die uns bedroht. Es fliegen auch keine Kampfflugzeuge am Himmel, und keine Panzer rollen über den Asphalt und verursachen dabei diesen unerträglichen Lärm, der sogar die Insekten unter der Erde in Unruhe versetzt, geschweige denn die Menschen, die ihre Häuser nicht verlassen dürfen. Das Virus ist eine unsichtbare Bedrohung. Doch trotz der hohen Zahl der Opfer, die es bisher gefordert hat, ist die Wahrscheinlichkeit, in einem Krieg zu sterben, größer. Mit meiner Familie im Kosovo habe ich Krieg und Verfolgung erlebt. Hier, in unserem Leben in der Schweiz, haben wir durchaus die besseren Überlebenschancen. Wir haben ein Dach über dem Kopf, genügend Nahrungsmittel und sogar rund um die Uhr Internetempfang. Die Gesundheitsversorgung ist sichergestellt. Was braucht man mehr? Und doch ist die Lage angespannt, die Stimmung ernst.
Normalerweise ist unser Programm an einem Dienstag mit achtzig bis hundert Patienten am Tag übervoll. Als ich heute bei meinem Arbeitsplatz in der Poliklinik ankomme, treffe ich jedoch nur eine von meinen Kolleginnen an, die an der Rezeption arbeitet. Alle anderen müssen diese Woche zu Hause bleiben, erfahre ich. Wir arbeiten nun in zwei Teams, wegen der kleineren Pensen und der Ansteckungsgefahr. Über allem liegt eine unheimliche Ruhe, und gleichwohl hofft man auf eine baldige gute Wendung – auf einen normalen Ablauf. Während ich mit den Vorbereitungen beginne, kommt es mir vor, als seien auch die Gegenstände und die Untersuchungszimmer stiller als sonst. Im Büro wirkt alles wie immer, doch ein Blick in unser Tagesprogramm zeigt, dass von elf Untersuchungszimmern nur drei belegt sind und dass zum Teil nur ein Patient pro Stunde geplant ist. Für den Nachmittag ist der Plan sogar fast leer. Entsprechend sind auch die Ärzte eingeteilt – in einer sehr reduzierten Zahl. Das lässt mir schon den Atem stocken. Wer hätte gedacht, dass es bei uns einmal so aussehen würde? Noch vor drei Wochen waren alle Untersuchungszimmer permanent belegt.
Während der letzten Tage sind unzählige E-Mails eingegangen, die intern über die Situation, den Umgang mit der Ansteckungsgefahr und über Hygienemaßnahmen informieren. Laufend passen wir unsere Arbeit an die Anweisungen an. Hohe Priorität haben jetzt Hinweise, die bis vor drei Wochen noch undenkbar gewesen wären, etwa ein telefonisches Unterstützungsangebot für Patienten, Angehörige und Mitarbeitende bei Corona-Symptomen, Weisungen für OP-Kriterien, die Einteilung nach Dringlichkeit, die Meldung positiv auf COVID-19 getesteter Mitarbeitender und Patienten der Orthopädie, die Reorganisation der Teamplanung, und so weiter. Zwei Meter Abstand sind auch bei uns angesagt – ein Ding der Unmöglichkeit! Körperliche Untersuchungen, Blutentnahmen, die Behandlung von Wunden, all das machen wir täglich. Die Abstandsregeln können wir nur unter uns Kollegen einhalten.
Schutzmasken sind seit einer Woche obligatorisch für alle Angestellten des Spitals. Noch im Wartesaal spüre ich, dass die Patienten von einer Unruhe erfüllt sind. Ich sehe es in ihrer Mimik, Gestik und an ihren Bewegungen. Wenn ich sie, das Gesicht halb bedeckt, zur Behandlung in Empfang nehme, habe ich bei manchen das Gefühl, ihre Unsicherheit schlage in leichte Angst um.
Basrie Sakiri-Murati, Bern, Schweiz
Liebe Frau Sakiri
Ich habe Ihr Buch "Bleibende Spuren" mit grossem Interesse gelesen. Es ist erschütternd! Da ich viele Kinder aus dem Kosovo Deutsch als Zweitsprache unterrichtet habe und auch zweimal im Kosovo gereist bin, bin ich Ihrer Heimat besonders verbunden.
Als ich nun Ihren Tagebucheintrag gelesen habe, hat es mich gefreut zu erfahren, dass Sie sich gut integriert haben in der Schweiz und eine hoffentlich zufriedenstellende Arbeit gefunden haben.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg im Leben und grüsse Sie herzlich
Anita Mezger