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Andreas Nentwich – Unser Coronaweg

Aktualisiert: 29. März 2020

21. März 2020

Am Samstag, an dem sonst tout Zürich nach Oerlikon kommt, ist es totenstill. Aber als ich um Sieben das Erkerfenster zum Marktplatz hin öffne, begrüßen die Vögel den Frühling mit einem Konzert. Kein Stand, kein Markt. Auch: kein Mensch. Verwaist die sechs Schachfelder, locus amoenus aller Oerliker Zusammenrottungen. Wir lieben Oerlikon, unser Großstädtchen aus dem Rotraut Susanne Berner-Wimmelbuch. Am letzten Wochenende hatte ich noch zu meiner Frau gesagt: Die Schachspieler sind unsterblich. Am Mittwochmorgen, als die Polizei mit einem weißen Lieferwagen kam und die Schachfiguren wegräumte, war klar: Jetzt kriecht sie heran, die neue Zeit. Aber selbst da gefiel man sich noch darin, einen Kult um die kleinen Dinge zu machen. »Glückes genug«, riefen wir aus, als wir am Donnerstag den Biohofladen mit dem Gemüsebauern direkt daneben entdeckten, in Velodistanz. Jetzt fahren wir hin, meine Frau und ich, durch die Felder von Zürich, die ab sofort nicht mehr Aggloabscheu, sondern Bauernhofferienstimmung wecken. Unser Coronaweg, sagt meine Frau. Früher habe ich mir beim Velofahren vorgestellt, ich sei ein Schnellzug, und drumherum Landschaften und Städte entworfen. Daram, daram. In Wahrheit tue ich das immer noch. Drei dürfen gleichzeitig im Selfservice-Hofladen sein, meine Frau wartet draußen. Nachdem ich mir schon Filippo Leutenegger-Stoppeln habe stehen lassen, bin ich heute auf die Idee verfallen, einen Schal um Mund und Nase zu binden, um den Ernst der Lage zu würdigen. Eine der beiden älteren Frauen im Laden fragt vorwurfsvoll: »Sind Sie krank?« Ich sage erschrocken: »Nein!«, und reiße mir das Zeug vom Gesicht. Die andere Frau macht mich freundlicherweise darauf aufmerksam, dass sie viele Einkäufe abzurechnen hat, aber sie wolle mich nicht drängen. In der Tat, drei Körbe. Als ich meine Posten auf einem Zettel zusammenaddiere, weist sie mich auf die bereitstehenden Taschenrechner hin, ich antworte, über mich erstaunt, recht unwirsch, dass ich’s eben auf diese Weise halte. Schon gestern war die Stimmung allgemein nicht mehr so aufgekratzt wie in den Tagen zuvor, als das Solidargefühl noch wonnige Schauer auslöste, neue Wink- und Redebeziehungen stiftete. Nach dem Frühstück, Vater, Mutter, Kind, verkrümeln wir uns erstmal irgendwohin. Das Wochenende soll sich anders gestalten als die Werktage, ohne Homeoffice, doch wissen wir noch nicht wie. Lorbeer umtopfen. Und ein Tagesordnungspunkt: 17 Uhr Skype mit Luzerner Freunden, die uns eigentlich hätten bekochen wollen. Aus dem Wohnzimmer tönt Schneuzen. Antonia hat Schnupfen, ausgerechnet. Aber es ist das Lego-Schiebegeräusch, alt wie die Welt. Ihr Onkel hat ihr ein 4000-Teile-Set geschenkt oder dauergeliehen, wir wissen es nicht genau. Häuser, ein ganzer Marktplatz mit Läden. Büros, Zahnarztpraxis, Wohnungen darüber – teils Oerlikon, teils New Orleans. Abends beim Kochen Guy Parmelin, neu bin ich stolzer Untertan. Als wir uns um den Esstisch versammeln, hat die Zwölfjährige als Einzige einen vollen Arbeitstag absolviert: acht Stunden legölen. Alles steht bis zum ersten Obergeschoss. Nie war der Marktplatz an einem Samstagabend so still. Zum Tagesabschluss lese ich vor, Warten bis der Frieden kommt von Judith Kerr. Pubertätsjahre im Londoner Exil, Ausgangssperren, Berufsverbote für feindliche Ausländer, Nazi-Bombenterror: Geschichten vom Überleben in noch viel schwierigeren Zeiten. Denn schön ist es ja nicht.


Andreas Nentwich, Zürich, Schweiz

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